Wenn die Grenzen verschwimmen

Die Weihnachtstage sind vorüber und nun, nachdem wir mehr oder weniger besinnliche Stunden mit unseren Lieben verbracht haben, stehen wir in der letzten Phase des Jahres, stehen wir „zwischen den Jahren“. Das ist schon eine etwas seltsame Formulierung, denn bis zum neuen Jahr sind es noch ein paar Tage und auch das alte ist noch nicht vergangen. Die Sprachregelung deutet an, dass mit Weihnachten ein Höhepunkt des Jahres erreicht wurde, dem die letzten Tage danach nicht mehr so recht das Wasser reichen können und damit sind wir auch schon mitten im Thema: Zeiteinteilung.

Jeder, der schon auf dem Kalender die Tage zählt, wann er oder sie wieder dem Broterwerb nachgehen muss, weiß: der Mensch hat sich die Zeit organisiert. Der Kalender ist ein Beispiel dafür, aber auch über das Jahr hinaus teilt sich der Mensch die Zeit in Abschnitte, Perioden und Epochen ein. Diese Einteilung von Epochen steht im Mittelpunkt von Jacques Le Goffs letztem Werk: Geschichte ohne Epochen? Ein Essay. Der 2014 verstorbene Mittelalterexperte und ehemalige Direktor der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris betrachtet dabei vor allem zwei Epochen: das Mittelalter und die Renaissance.

Man kennt die Perioden noch aus dem Schulunterricht oder aus dem Studium. Das Mittelalter reicht ungefähr vom 5. bis zum 15. Jahrhundert. Danach beginnt mit der Renaissance die (frühe) Neuzeit. Gern zitierte Endpunkte des Mittelalters sind die Eroberung Konstantinopels durch die Türken (1453), die „Entdeckung“ Amerikas (1492) oder der Anschlag von Luthers Thesen (1517). In Italien begann der Umbruch bereits etwas früher, als der Dichter Petrarca im 14. Jahrhundert den Mount Ventoux bestieg und sein Erlebnis schriftlich festhielt. Das Zusammenkommen von Naturerlebnis und Rückwendung auf das Selbst begründete eine neue Qualität in der Literatur. Petrarca äußerte zum ersten Mal die Vorstellung, dass eine neue Periode begonnen habe, welche die seit dem Ende der griechisch-römischen Periode herrschende Phase der Barbarei ablöste. Erst im 19. Jahrhundert entstand für diese neue Periode der Begriff „Renaissance“. Die schon bei Petrarca angelegte Verachtung für diese „mittlere Epoche“ hat sich in weiten Teilen gehalten. Die Renaissance erscheint als Aufbruch ins Licht nach langen Jahrhunderten der Finsternis.

Jacques Le Goff lehnt diese Trennung von Mittelalter und Renaissance ab und er führt dafür gute Gründe ins Feld. Unter Beleuchtung verschiedenster Bereiche, wie Kunst, Religion, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft macht er deutlich, dass die Übergänge zwischen Mittelalter und Renaissance weitaus fließender waren, als meist angenommen. So sei zwar die „Entdeckung“ Amerikas ein bedeutendes Ereignis gewesen, für das Leben der allermeisten Europäer habe sich diese aber kaum bis gar nicht bemerkbar gemacht, da neue Produkte nur langsam Verbreitung fanden. Die verstärkte Geldwirtschaft durch den Zustrom amerikanischer Edelmetalle habe zwar Änderungen mit sich gebracht, aber die „mittelalterlichen“ Wirtschaftsformen hielten sich noch lange. Auch die Reformation habe zwar die Kirche erschüttert, an der Macht der Religion über das Leben der Menschen habe dies jedoch nichts geändert.

Aus Le Goffs Sicht kam es erst im 18. Jahrhundert zu entscheidend neuen Entwicklungen. Mit der beginnenden Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien trat Amerika als Akteur auf die Bühne, mit Adam Smith wurden die letzten Elemente der mittelalterlichen Wirtschaft über Bord geworfen und mit der Aufklärung fanden erstmals unreligiöse Freidenker Gehör in breiteren Schichten. Die Renaissance, so der Autor, sei nur die letzte in einer Reihe von vielen Renaissancen, die das lange Mittelalter geprägt haben. Dabei erscheint das Mittelalter nicht als die dunkle Epoche sondern als ein von Licht und Schatten geprägtes Gebilde, das durchaus seine progressiven Momente erlebte. So habe die Schule von  Chartres den Menschen schon im 12. Jahrhundert als „Mittelpunkt der Schöpfung“ ausgemacht. Auch im Bereich von Kunst und Ästhetik habe die Scholastik durchaus Raum für Schönheit gelassen, wie schon Umberto Eco betonte. Gerade auf dem nur wenigen bekannten Gebiet der Buchmalerei werde dies deutlich.

Geschichte ohne Epochen? ist eine sehr informative und gut lesbare Reise durch die Zeit des Spätmittelalters. Jacques Le Goff erinnert uns gekonnt daran, dass Epocheneinteilungen Konstrukte sind, die von der Nachwelt geschaffen werden und die es hin und wieder zu hinterfragen lohnt.

Quelle:  Jacques Le Goff: Geschichte ohne Epochen? Ein Essay, WBG, 2016.

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